[Talk-at] Neighbourhoods in Wien

Stefan Nagy stefan.nagy at posteo.net
Tue Jan 30 18:05:49 UTC 2018


Am Sonntag, den 28.01.2018, 23:46 +0100 schrieb Friedrich Volkmann:
> On 28.01.2018 13:04, Stefan Nagy wrote:
> > > > > Es geht nicht darum, dass der Name der nach wie vor
> > > > > existierenden Vorstadt Nikolsdorf vergessen wurde; die
> > > > > Vorstadt existiert nicht mehr.
> > > 
> > > Sie existiert schon noch, sie ist nur mit anderen Vorstädten
> > > zusammengewachsen - genauso wie Wien im Südwesten mit
> > > Perchtoldsdorf, Brunn am Gebirge, Maria Enzersdorf, Hinterbrühl,
> > > Gießhübl, Mödling, Guntramsdorf, Wiener Neudorf und Vösendorf
> > > siedlungsmäßig zusammengewachsen ist, nur administrativ sind die
> > > noch eigenständig. Wenn man die place-Nodes der Wiener Vorstädte
> > > rauslöscht, müsste man konsequenterweise auch die place-Nodes von
> > > Mödling usw. löschen und nur die admin-Grenzen lassen.
> > 
> > Für mich ist der Vergleich so absurd, dass ich gar nicht weiß, was
> > ich da antworten soll… Also wir haben da offensichtlich so
> > unterschiedliche Weltwahrnehmungen, dass eine diesbzügliche
> > Verständigung schlicht unmöglich ist. Auch OK – sowas gibts.
> 
> Nach den bisherigen Erfahrungen bin ich überzeugt, dass eine
> Verständigung auch in diesem Punkt zwischen uns möglich ist,
> zumindest so weit, dass du meinen Vergleich nicht als absurd
> ansiehst. Du hast zwar geschrieben, dass es nicht darum geht, dass
> der Name vergessen wurde, aber ich habe doch den Eindruck, dass der
> Bekanntheitsgrad des Namens den Ausschlag gibt, warum du Nikolsdorf
> aus der Karte raus haben willst und Grinzing oder Mödling nicht. 
> Wenn du schon als Kind von Nikolsdorf gehört hättest, in welcher
> Weise auch immer, wär dessen Existenz für dich so selbstverständlich,
> dass du den Thread gar nicht gestartet hättest.

Ich habe die erste Hälfte meines Lebens im Bezirk Mödling verbacht.
Mödling ist nicht nur irgendeine Ansiedlung mit einem historisch
überlieferten Namen, sondern ein gegenwärtiger Bezugspunkt. Ich bin in
Laxenburg aufgewachsen. Und so wie die allermeisten Kinder und
Jugendlichen im Bezirk bin ich in eine der vielen Sekundarschulen
Mödlings gegangen. Am Abend sind wir, wie viele andere, in Mödling
weggegangen.

Selbst Laxenburg geht problemlos als Bezugspunkt durch. Kinder gehen da
in die Volks- und vielleicht Musikschule; manche sind bei der
Pfadfinder-Gruppe, manche gehen zur Freiwilligen Feuerwehr, manche
gehen mit den Eltern zum Tennis-Klub; viele treffen sich (so
unterschiedlich ihre Leben sonst auch sind) dann im Sommer im Bad usw.
usf. Und dann kommt da auch noch der ADEG dazu, bei dem man sich sieht
(der glaub ich jetzt aber zugesperrt hat); der Bäcker, die Apotheke
usw. usf.

Durch solche gemeinsamen Bezugspunkte entsteht Idenität. Man ist
Laxenburger. Die anderen sind Biedermannsdorfer. Auf einer anderen
Ebene ist man mit denen eins. Also wenn man Leute aus einem anderen
Bundesland kennenlernt, werden die Differenzen zum Achauer
vernachlässigbar; dann ist man Mödlinger. Aber wenns um Wien geht…
Viele Mödlinger die ich kenne haben ein Wien-Bild, das starke
Ähnlichkeiten zu dem hat, das ich sehr ähnlich von Steirern kenne
(trotz der viel kürzeren Luftlinie). Sie haben ihr Bild primär aus den
Medien – und dann kennen sie noch die Mariahilfer Straße, den Graben
und die Kärtner Straße. Ihr Zentrum ist aber eben nunmal Mödling, nicht
Wien.

Kommen wir zu Nikolsdorf: Wo sind da gegenwärtige gemeinsame
Bezugspunkte? Das Einzugsgebiet vom Hofer ist viel größer (sonst würde
er schon lange nicht mehr existieren); das vom Hartmannspital erst
recht. Was gibt es noch… Der Rudolf-Sallinger-Park liegt schon nicht
mehr am Grund des ehemaligen Nikolsdorf… Das "Fit Inn" immerhin zur
Hälfte. Aber glaubst du, die Leute von links und rechts der
Nikolsdorfer Straße erkennen sich dort als Nikolsdorfer?

Sagen wir, in den Volksschulen rund um die Nikolsdorfer Gasse würde man
den Kindern von Nikolsdorf, Hungelbrunn usw. erzählen; deren Geschichte
ausbreiten und behaupten, diese Vorstädte würden heute noch existieren.
Glaubst du ernsthaft, dass diese Identitäten gelebt werden würden, wenn
die Bezugspunkte der Kinder meistens außerhalb der jeweiligen Grenzen
sind (und zwar von dem Moment an, wenn ihre Eltern mit ihnen das erste
mal das Haus verlassen, um in einem nahe gelegenen Park spazieren zu
gehen)? In weniger als fünf Minuten Gehzeit ist man in (nun in den vo
dir vertretenen Grenzen des frühen 19. Jahrhunderts ausgedrückt)
Matzleinsdorf, Margareten, Wieden, Hungelbrunn und am Laurenzergrund –
je nachdem in welche Himmelsrichtung man schlendert.

> Ich habe mein ganzes Leben im 10. Bezirk gewohnt. Laaerberg,
> Wienerberg, Oberlaa, Unterlaa, Hansson-Siedlung, ich kannte alles wie
> meine Westentasche. Als aber in den Nachrichten stand, dass die U1
> nach Rothneusiedl verlängert werden soll und dort ein Einkaufscenter
> und ein Fußballstadion gebaut werden sollen, fragte ich mich, wo oder
> was Rothneusiedl denn sein soll. Im Stadtplan auf wien.at wird
> Rothneusiedl mitten in den Äckern angezeigt. Tatsächlich waren genau
> dort in den Äckern die Baumaßnahmen geplant. Warum heißen Äcker seit
> Jahrhunderten Rothneusiedl? Haben Leute im 18. Jahrhundert die
> Besiedlung im 21. Jahrhundert schon vorausgeahnt? Erst meine
> Beschäftigung mit OSM und mit alten Karten brachte mir die
> Erkenntnis, wo dieses Rothneusiedl wirklich war. Es gibt dort sogar
> eine Kirche, die aber so unscheinbar ist, dass sie mir beim
> Vorbeifahren nie auffiel. Ist das jetzt eine Siedlung, die es 
> verdient als place=suburb gemappt zu werden oder nur neighbourhood
> oder gar nicht? Seit wegen der Planungen Rothneusiedl in aller Munde
> ist, wird vermutlich niemand die Löschung des place-Nodes aus OSM
> befürworten. Es ist aber wirklich nur der Bekanntheitsgrad des
> Namens, der sich durch die Planungen geändert hat. Die Siedlung
> dieses Namens hat in keiner Weise an "Identität" gewonnen, ganz im
> Gegenteil, das geplante Shoppingcenter beraubt Rothneusiedl seiner
> (ländlichen) Identität. Es wird einen großen Parkplatz, einen Hofer,
> einen Billa, einen Libro, einen C&A usw. geben, wie in tausend 
> anderen Einkaufszentren auch.

Ich kann das bei Rothneusiedl nicht beurteilen; also ob es für die
Bewohner genügend Bezugspunkte gab, dass sie ein "Wir"-Gefühl
entwickeln konnten. Für den Fall, dass es das nicht gab, wurde durch
das mediale Getöse nicht die Bekanntheit eines immer vorhandenen
Phänomens ("Vorstadt" – was auch immer das ohne Menschen und deren
Denken und Empfinden ist) gesteigert, sondern etwas Neues geschaffen
und dafür auf einen alten Namen zurückgegriffen.

Wie gesagt, ich kanns aus der Ferne nicht beurteilen. Und deswegen werd
ich meine Finger von Rothneusiedl lassen.

> > Die Frage ist, wie im Projekt mit solchen Situationen umgegangen
> > wird. Bei der Wikipedia kenn ich mittlerweile die Vorgangsweise
> > halbwegs, ich würde da jetzt erst einmal eine dritte Meinung
> > einholen. Aber bei OSM bin ich noch nie vor so einer Situation
> > gestanden. Hat sich da irgendeine Vorgehensweise etabliert?
> 
> Die deutschsprachige Wikipedia ist meines Wissens eine Oligarchie
> von Herzipinki & Co.  OSM ist auch nicht viel anders, das Tagging
> entscheiden hauptsächlich die Carto-Committer, Editor- und
> Validatorentwickler. Auch Administratoren und Moderatoren können
> Einfluss nehmen, z.B. indem sie einen User, der anderer Meinung ist,
> sperren. Wer keines dieser Privilegien besitzt, kann Erfolg haben
> durch heimliche Wiki- und Datenedits (ohne Änderungskommentar oder
> mit einem Kommentar wie "Qualitätssicherung"). In Diskussionen
> schadet es nicht, ein paar Freunde zu haben, die sich bei 
> Bedarf gemeinsam in den Diskussionsgegner verbeißen.

Meine Erfahrung ist eben die, dass man in freien Projekten mit derart
unterschiedlichen Leuten zu tun hat, dass man immer wieder bemerkt,
dass man ganz unterschiedliche Weltwahrnehmungen hat und ab und zu – so
sehr man sich auch bemüht – einfach aneinander vorbeiredet. Da finde
ich sowas wie die Dritte Meinung eine ganz gute Sache.

Ich würde den Projekten nicht vorwerfen, etwas falsch zu machen. Es ist
eben wirklich beachtlich, wie unterschiedlich man Dinge einschätzen
kann; wie wenn man auf unterschiedlichen Planeten leben würde.
Angesichts dessen ist es eher ein Wunder, wie gut nicht autoritär
geführte Projekte funktionieren.

> > Im deutschsprachigen Wiki-Artikel steht "eine geografische oder
> > soziale Bezugsstruktur innerhalb einer Großstadt (place=city) […]
> > welche sich räumlich/geografisch und auch oft von der sozialen oder
> > ethnischen Struktur seiner Bewohner her von anderen Stadtvierteln
> > abgrenzt".
> > 
> > Keines dieser Kriterien wird erfüllt.
> 
> In der englischen Version steht was ganz anderes. Ich verstehe nicht,
> warum Deutsche und Russen immer wieder abweichende Definitionen
> aufstellen wollen und damit die internationalen Standards
> untergraben.
> 
> Die zitierte Definition klingt schwulstig, ist aber trotzdem
> unscharf. Was soll man sich unter einer "geografischen oder sozialen
> Bezugsstruktur" vorstellen? Auch eine Familie oder ein Sport- oder
> Pensionistenverein sind soziale Bezugsstrukturen. Als Beispiel für
> eine geografische Bezugsstruktur fallen mir die Alpen ein. Der
> Hinweis auf "andere Stadtviertel" scheint mir unpassend, denn das
> Wort "andere" impliziert, dass auch das place=neighbourhood selber
> ein Stadtviertel ist. Stadtviertel sind aber größere Einheiten, z.B.
> place=quarter.

Zu geografischen Bezugspunkten (von "struktur" würde ich da nicht
sprechen): Ich verbringe immer wieder viel Zeit in Luzern in der
Schweiz und gibt es Hügel bzw. Berge, zu denen Bezüge in den lokalen
Identitäten bestehen. Also man wohnt am Gütsch oder am Bramberg usw.
Die Gegenden unterscheiden sich durchaus soziokulturell und auch in der
Architektur.

Soziale Bezüge habe ich oben genannt; eben danach frage ich ja bei
Nikolsdorf. Es braucht irgendwas, das ein "Wir" herstellt; in aller
Regel ist das eine Vielfalt von Bezugspunkten, daher macht da auch das
Gerede von einer Bezugsstruktur Sinn.


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